Denken lernen – auch und vor allem im Zeitalter von Sprachmodellen und KI
Häufig gehen neue Technologien, wie Künstliche Intelligenz, mit glitzernden Versprechen hinsichtlich einer besseren Zukunft einher. Eine Zukunft, in der die mühselige Arbeit von Maschinen übernommen wird und wir mehr Zeit für vermeintlich hochwertige, weniger anstrengende Tätigkeiten haben werden (vgl. Uhle). Gleichzeitig haben Technologieskepsis und Kulturpessimismus Hochkonjunktur, der Untergang der Menschheit wird prophezeit. Wie also kann der verantwortungsbewusste und lernprozessfördernde Umgang mit Technologien, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, an Hochschulen gelingen?
Text: Gian-Paolo Curcio / Bild: zVg
Ein Taschenrechner rechnet schneller und präziser als jeder Mensch. Ein modernes Smartphone verfügt über eine höhere Rechenleistung als alle bei der Mondlandung vor mehr als 55 Jahren im Kontrollzentrum der US-Bundesbehörde (NASA) eingesetzten Computer. Heutige Hochleistungsrechner sind in der Lage, eine Billiarde Rechenoperationen in einer Sekunde durchzuführen, um beispielsweise das Wetter der nächsten Tage vorherzusagen. Trotz dieser unvorstellbaren Leistung sprechen wir den Rechnern weder eine «Intelligenz» noch ein «Bewusstsein» zu. Ebenso fühlt sich niemand von Rechnern und ihrem Leistungspotenzial bedroht. Im Gegenteil, wir haben sie in unseren Alltag integriert.
Offensichtlich ändert sich dies, sobald ein Computer nicht nur sinnvolle Zahlen, sondern auch sinnvolle Texte produziert. Auf einmal wird dem Computer eine «Intelligenz» oder ein «Bewusstsein» zugesprochen. Warum ist das so? Die durch maschinelles Lernen und Algorithmen erzeugten Texte ergeben in vielen Alltagssituationen mehrheitlich Sinn, die Antworten auf allgemeine Fragen sind in fast allen Fällen verständlich – und mehr noch: Die geführten Dialoge zwischen Mensch und Maschine sind überraschend anregend. Reicht das, um dem Computer ein «Bewusstsein» zuzusprechen? Wohl kaum. Aus mathematischer Sicht zeigt sich, dass die verwendeten Algorithmen und die dazugehörigen Modelle vergleichsweise simpel sind. Im Unterschied zu komplexeren Algorithmen greifen KI-Sprachmodelle wie ChatGPT auf eine wesentlich grössere Menge anpassbarer Parameter und vorverarbeiteter Daten zurück. Genau hier liegt wohl auch das Problem, weshalb generative Algorithmen insbesondere bei spezifischen Themen teilweise noch zu fragwürdigen, unsinnigen, gefährlichen oder schädlichen Resultaten führen können. Die Ergebnisse hängen im Wesentlichen von der Formulierung der Aufgabenstellung ab und können nur so präzise sein, wie die zugrunde liegenden Daten es zulassen. Von einem lernenden System, das sich durch Autonomie und Anpassungsfähigkeit auszeichnet, von einer «Intelligenz» also, kann bei diesen Sprachmodellen nicht oder noch nicht die Rede sein. Damit sind wir noch weit weg von den in Editorialen, Kommentaren und Kolumnen verschiedener Tageszeitungen dargestellten Szenarien, welche den Untergang der Menschheit, die Machtübernahme durch Maschinen oder auch die Abkehr vom humboldtschen Bildungsideal beschreiben, wobei Letzteres massgeblich von den Bildungsinstitutionen im Allgemeinen und den Hochschulen im Speziellen abhängt.
Es stellt sich also die Frage, wie KI-basierte Technologien – beispielsweise zur Produktion von Texten, zur Auswertung von Daten, zur Zusammenfassung von Informationen – den Lernprozess unterstützen und in der Lehre und Forschung an Hochschulen nutzbar gemacht werden können. Mit dieser Frage haben sich die Rektorinnen und Rektoren der Schweizer Hochschulen (swissuniversities) befasst. Ihre Antworten finden sich im Positionspapier «Die Schweizer Hochschulen und künstliche Intelligenz» aus dem Jahr 2024. Trotz der Einschränkung, dass sich die verfügbaren Tools rasch und kontinuierlich entwickeln werden, was folglich keine abschliessende Antwort in Bezug auf den Umgang mit und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz an Hochschulen zulässt, werden klare Leitlinien in Bezug auf die Lehre und Forschung definiert. Diese basieren auf der Annahme, dass die Mehrheit der Studierenden und ein Teil der Dozierenden sowie Forschenden diese Technologien bereits einsetzen.
Unbestritten ist indessen auch, dass die Fähigkeit zum verantwortungsbewussten Umgang mit diesen Instrumenten in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Was bedeutet das konkret? Die Rektorinnen und Rektoren antworten in Bezug auf die Lehre wie folgt: «Die verantwortungsvolle Nutzung von KI-basierten Technologien in einem akademischen Kontext setzt eine Beherrschung des jeweiligen Fachgebiets voraus. Folglich ist es Aufgabe der Hochschulen, darauf zu achten, dass sich die Studierenden weiterhin selbstständig vertiefte fachliche und methodische Kenntnisse aneignen, um unter anderem die durch Künstliche Intelligenz erzeugten Inhalte richtig bewerten und einordnen zu können.» (vgl. swissuniversities, Positionspapier S. 2). Mit Blick auf die Forschung bekräftigen die Rektorinnen und Rektoren, dass die Hochschulen dem Grundsatz der wissenschaftlichen Integrität verpflichtet sind. Alle Forscherinnen und Forscher sind demnach verpflichtet, für Dritte nachvollziehbar zu machen, welche Inhalte aus fremden Quellen stammen und welche Inhalte aus den eigenen Gedanken entstanden sind. Diese von den Rektorinnen und Rektoren der Schweizer Hochschulen formulierte Haltung widerspiegelt im Wesentlichen das konstruktivistische Verständnis von Lernen und Entwicklung.
Lernen und entwickeln – die Grundlagen der akademischen Bildung
Lernen kann in einem konstruktivistischen Verständnis (vgl. Piaget, 1983) als aktive Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Umwelt beschrieben werden. Ausgangspunkt jeglichen Lernens ist ein kognitives Ungleichgewicht, d. h. eine Situation bzw. eine Aufgabe, welche der Mensch mit seinen bestehenden Denkstrukturen nicht zu erfassen bzw. zu lösen vermag. Erarbeitete Erkenntnisse führen über Adaptions-, Assimilations- und Akkommodationsprozesse zur Weiterentwicklung der Denkstrukturen (Strukturgenese) und somit zu einem zumindest vorübergehenden kognitiven Gleichgewicht. KI-basierte Technologien können den Lernprozess zwar unterstützen, die Strukturgenese aber nicht substituieren. Lernen bleibt eine aktive Auseinandersetzung zwischen Mensch und Umwelt. Lernen bleibt mit Arbeit und in vielen Fällen auch mit Anstrengung verbunden. Das Verstehen und Erschliessen der Phänomene und Theorien in den jeweiligen Fachbereichen sowie die Beherrschung der fachbereichsspezifischen wissenschaftlichen Methodik sind für die Hochschulbildung gegenwärtig wie auch künftig eminent. Gleichzeitig sind das Verstehen und Erschliessen der Inhalte sowie das Beherrschen der Methoden notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzungen hinsichtlich der kritischen Auseinandersetzung sowie der wissenschaftlich integren Nutzung von Produkten, welche mithilfe von KI-basierten Technologien generiert wurden.
Wir werden demnach trotz KI Texte lesen, Fachliteratur studieren, Inhalte verstehen und erschliessen, Komplexität mittels Modellierungen und Visualisierungen reduzieren, und wissenschaftliche Methoden anwenden – alles, um verallgemeinerbare und reproduzierbare Erkenntnisse zu gewinnen, um zu lernen. Der insgeheime Wunsch, ohne Anstrengung zu lernen, wird auch mit dem Einsatz von KI-basierten Technologien nur dann Realität, wenn die Anforderungen der Situation nahezu im Einklang mit den Kompetenzen des Menschen stehen. Diese seltenen sogenannten Flow-Erlebnisse (vgl. Csikszentmihalyi, 1990) bleiben in unserem Alltag für viele die Ausnahme.
Weiterentwicklung der Lehre
Folglich wird bei der Weiterentwicklung der Studiengänge im Rahmen des Projekts «Lehre 2030» der FH Graubünden in Anlehnung an das Kompetenzraster der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (vgl. ETHZ, 2023) ein besonderes Augenmerk auf die Bestimmung der fachspezifischen und methodenspezifischen Kompetenzen gelegt. Während die fachspezifischen Kompetenzen das Wissen und Verstehen von Theorien, Konzepten und Verfahren sowie deren Anwendung beinhalten, fokussiert die methodenspezifische Kompetenz auf fachliche und überfachliche Kenntnisse und Fähigkeiten sowie die konkrete Anwendung dieser wissenschaftlichen Methoden. Im Rahmen verschiedener Module eignen sich die Studierenden diese Kompetenzen an, was die Basis für die kritische Auseinandersetzung mit KI-basierten Technologien bildet. Die Anwendung der fachspezifischen und methodenspezifischen Kompetenzen, ergänzt mit den sozialen und persönlichen Kompetenzen anhand einer konkreten Aufgabenstellung aus Wirtschaft und Gesellschaft, macht den Typus Fachhochschule aus. Im Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (HFKG) des Bundes ist die Studienganggestaltung an den Fachhochschulen wie folgt geregelt: «Die Fachhochschulen bereiten durch praxisorientierte Studien und durch anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung auf berufliche Tätigkeiten vor, welche die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden […] erfordern.» (HFKG, Art. 26, Abs. 1)
Schlüsselfunktion Dozentin bzw. Dozent Wissens- und Technologietransfer
Der Aufbau der spezifischen kognitiven Denkmuster bleibt ein zentraler Bestandteil des Lernprozesses. Diese Arbeit kann den Studierenden nicht abgenommen werden. Die Aufgabe der Dozierenden ist es, Bedingungen zu schaffen, damit der Lernprozess der Studierenden möglichst wirksam unterstützt wird. Die Gelingensbedingungen hierfür bilden das mehrfache Kompetenzprofil (bestehend aus einer fundierten akademischen Grundbildung), Erfahrungen in der Anwendung (in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft oder Forschung) sowie ergänzende hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildungen. Die Hochschulen stehen in der Verantwortung, ihren Dozierenden und Forschenden eine breite Palette an Aus- und Weiterbildungen sowie Unterstützungsangeboten bereitzustellen, um sie in ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen. Parallel dazu ist die hochschuldidaktische Forschung zu fördern, um besser zu verstehen, welche Lehr- und Unterrichtsformen sich wie auf den Lernprozess der Studierenden auswirken.
Bleibt also die abschliessende Frage zu beantworten: KI-basierte Technologien an Hochschulen – ein Allerheilsmittel oder ein Teufelszeug? «Weder – noch», «sowohl – als auch» und «es kommt darauf an». Im Grundsatz sollen Technologien in die Lehre integriert werden, sofern sie den Lernprozess wirksam unterstützen und praxisrelevant sind. Die Studierenden sollen lernen, Technologien kompetent, verantwortungsbewusst und wissenschaftlich integer zu nutzen. Gleichzeitig sollen sie lernen, Technologien und ihre Nutzung kritisch zu hinterfragen. Dies erfordert umfassende fachspezifische und methodenspezifische, aber auch soziale und persönliche Kompetenzen seitens der Studierenden. Die Aufgabe der Hochschule ist und bleibt es, die idealen Bedingungen und Voraussetzungen für Lernen und Entwicklung bereitzustellen.
Sprachmodelle und digitale Souveränität
Grosse Sprachmodelle werden meistens in den USA generiert und international zur Nutzung angeboten. Dies birgt Risiken in Bezug auf die Abhängigkeit von externen Anbietern, die Unsicherheit beim Datenschutz und generell den Verlust von Know-how. Umso wichtiger sind nationale Initiativen und Projekte. So haben Forschende der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) ein mehrsprachiges, vollständig offenes und bewusst vielfältiges Sprachmodell entwickelt. Das heisst, dass beispielsweise die Trainingsdaten transparent und reproduzierbar sein werden. Ziel ist es, die Verbreitung und Anwendung von KI-basierten Sprachmodellen zu unterstützen, indem dieses Sprachmodell das Vertrauen in diese Technologie fördert.
Ein Ansatz, der auch der FH Graubünden wichtig ist. Daher wird aktuell eine eigene Lösung entwickelt, welche den Datenschutz gewährleistet und gleichzeitig mannigfaltige Einsatzmöglichkeiten bietet. So können freie Modelle wie jenes der EPFL und ETHZ integriert und sogar intern gehostet werden, was maximalen Datenschutz gewährleistet. Bei besonderem Bedarf, beispielsweise in der Forschung, können auch externe Modelle eingebunden werden, ohne dass deren Nutzenden einzeln vom Anbieter identifiziert werden können.
Literaturverzeichnis
Csikszentmihalyi, M. (1990): Flow: The Psychology of Optimal Experience. Stuttgart: New York, NY: Harper & Row.
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, ETHZ (2023): ETHZ Kompetenzraster. Online verfügbar unter https://ethz.ch/de/die-eth-zuerich/lehre/grundsaetze/eth-kompetenzen-lehre/competencies-design.html, zuletzt geprüft am 22.08.2025.
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, ETHZ (2025): Sprachmodell. Online verfügbar unter https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2025/07/ein-sprachmodell-im-dienste-der-gesellschaft.html, zuletzt geprüft am 22.08.2025.
Kanton Graubünden (2012): Gesetz über Hochschulen und Forschung (GHF). Online verfügbar unter https://www.gr-lex.gr.ch/app/de/texts_of_law/427.200, zuletzt geprüft am 22.08.2025.
Kompetenzraster der ETH Zürich
Piaget, J. (1983): Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Swissuniversities (2024): Die Schweizer Hochschulen und künstliche Intelligenz (Positionspapier). Online verfügbar unter https://www.swissuniversities.ch/themen/digitalisierung/kuenstliche-intelligenz, zuletzt geprüft am 22.08.2025.
Uhle, C. (2024): Künstliche Intelligenz und echtes Leben. Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Beitrag von
Prof. Dr. Gian-Paolo Curcio, Rektor FH Graubünden