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Mit Kunstschnee gegen die Gletscherschmelze
Mit Kunstschnee gegen die Gletscherschmelze

Mit Kunstschnee gegen die Gletscherschmelze

Jedes Jahr erreicht die Gletscherschmelze in der Schweiz neue Höchstwerte. Das Eisvolumen nimmt stetig ab. Zusammen mit anderen Hochschulen hat die Fachhochschule Graubünden eine Technologie entwickelt, welche die Gletscherschmelze verzögern soll. Mithilfe eines Seilsystems werden Gletscher mit Schmelzwasser vom Sommer beschneit.

Text: Felix Keller, Dieter Müller / Bild: Mayk Wendt / Christine Levy / Bartholet Maschinenbau AG

Ziel des Innosuisse-Projekts «Bodenunabhängiges Beschneiungssystem» ist es, eine Technologie zu entwickeln, die es ermöglicht, sich im Kriechen befindende Gebiete (Gletscher, Permafrost) über ein Seilsystem zu beschneien. Seit September 2019 arbeitet die FH Graubünden gemeinsam mit der Academia Engiadina, der Hochschule Luzern (HSLU), der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und der Interkantonalen Hochschule für Technik Buchs (NTB) sowie zwei Industriepartnern an dieser Technologie. Das Projekt in der Höhe von 2,5 Millionen Franken und mit einer Dauer von 30 Monaten wird durch Innosuisse und die beiden Industriepartner Bartholet Maschinenbau AG und Bächler Top Track AG finanziert.

Schmelzwasser-Recycling

Wenn man das massenweise im Sommer anfallende Schmelzwasser eines Gletschers möglichst hoch oben sammeln, im Winter in Form von Schnee wieder recyceln und dem Gletscher zurückführen würde, könnte das Gletscherschmelzen verzögert werden – so entstand der Begriff «Schmelzwasser-Recycling». Was passiert also, wenn man Gletscher mit Schnee abdeckt? Das war die zentrale Frage, mit der sich Glaziologe Felix Keller und Johannes Oerlemans (Universität Utrecht, NL) im Auftrag der Gemeinde Pontresina seit 2015 befassten. Es folgten zahlreiche Studien und Feldversuche auf den Oberengadiner Gletschern sowie eine Machbarkeitsstudie. Als Grundlage hierfür diente die weltweit längste auf einer Gletscherzunge durchgeführte Energiebilanz-Messreihe auf dem Morteratsch-Gletscher. Zudem lagen für den betrachteten Gletscher Längenmessungen seit 1878 aus dem Schweizerischen Gletschermessnetz vor. Dank des produzierten Schnees steigt die Reflexion der kurzwelligen Sonnenstrahlung auf der Gletscheroberfläche (Albedo), womit die Eismassen lokal sehr effizient vor dem Abschmelzen geschützt werden können. So konnte rechnerisch dargelegt werden, dass unter den heutigen Bedingungen sogar ein Längenwachstum in zehn Jahren möglich wäre, wenn man 10 Prozent der Gletscherfläche ganzjährig mit Schnee abdeckt.


Schneeerzeugung mit möglichst wenig Energie

Für das lokale Beschneien eines Gletschers oder einer Skipiste sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Die Installation herkömmlicher Beschneiungslanzen ist aufgrund der Bodenbeschaffenheit (Permafrost- und Gletschergebiete) nicht möglich. Zudem sollte möglichst wenig elektrische Energie für den Wassertransport und die Schneeerzeugung notwendig sein, und es muss genug Schmelzwasser vorhanden sein. Aus diesen Erkenntnissen wurde die Idee eines bodenunabhängigen Beschneiungssystems geboren. Dabei werden neu zu entwickelnde Seilsysteme mit Schneeerzeugern über dem Gletscher bzw. den Skipisten angebracht. Die Firma Bartholet Maschinenbau AG ist weltweit führend in der Herstellung von Seilbahnsystemen. Die Firma Bächler Top Track AG hat zudem ein Patent auf das «Nessy»-System, das eine stromfreie Schneeproduktion möglich macht. Felix Keller konnte beide Industriepartner zusammenbringen und für die Idee begeistern.
 

Grafik technische Einrichtungen Morteratschgletscher
Für die Beschneiung ab einem Seilsystem sind neue technische Lösungen erforderlich. (Quelle: Christine Levy, Academia Engiadina)
Bild vom Morteratschgletscher
Das Eisvolumen des Morteratschgletschers nimmt seit Jahren stetig ab. (Quelle: Mayk Wendt, Scuol)
Beschneiungsgerät am Seil
Mithilfe eines Seilsystems werden Gletscher mit Schmelzwasser beschneit. (Quelle: Bartholet Maschinenbau AG)

Ein interdisziplinäres Team sucht innovative Lösungen

Im Zuge dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekts wird nach innovativen technischen Lösungen für die vielseitigen Probleme im Zusammenhang mit dem bodenunabhängigen Beschneiungssystem gesucht. Die Herausforderungen dieses Innosuisse-Projekts sind sehr unterschiedlich. Unter Berücksichtigung der Meteodaten, der Gletscher-/Schmelzwasserverhältnisse und des Energieaustauschprozesses soll etwa ein Bemessungstool für spezifische Projekte erarbeitet werden. Zudem muss die Beschneiungstechnologie weiterentwickelt werden. Für die spezifischen Randbedingungen der Beschneiung ab einem Seilsystem sind Anpassungen des Sprühkopfs sowie neue Lösungen für das Leitungssystem und die Drucklufterzeugung erforderlich. Auch beim Seilsystem sind Anpassungen nötig. Eine robuste, unterhaltsarme und optimierte Lösung für die Aufhängung der Wasser- und Druckluftleitungen sowie der Beschneiungsdüsen muss gefunden werden. Eine Herausforderung ist zudem die Wasserlogistik zur energiearmen Nutzung von Schmelzwasser für die Beschneiung. Am Schluss soll das Gesamtkonzept in einem Feldtest zur Überprüfung der Technologie und zur Optimierung des Betriebs auf Herz und Lunge geprüft werden.

Das Institut für Bauen im alpinen Raum der FH Graubünden bringt gemeinsam mit der Academia Engiadina seine Forschungskompetenzen in den Bereichen Bau, Wasserlogistik und Gletschermodelle ein und die beiden Institutionen nehmen mit Felix Keller und Dieter Müller auch die Projektleitung wahr. Die HSLU sowie die FHNW bringen ihr Know-how im Bereich der Beschneiungsdüsen ein, während die NTB das Projekt im Bereich der Seilbahntechnik unterstützt.


Weltweite Märkte warten auf Innovation

Potenzielle Kunden für ein solches bodenunabhängiges Beschneiungssystem finden sich in bestimmten Regionen Europas, Zentralasiens sowie in den Anden. In vielen Regionen hängt die Existenz (Trinkwasser, Bewässerung) vom Schmelzwasser nahegelegener Gletscher ab. Das Verschwinden der Gletscher bedroht das Überleben der dort ansässigen Menschen. Gemäss einer kürzlich im Wissenschaftsmagazin «Nature» erschienenen Studie (Hamish D. Pritchard, Nature 569, 649-654, 2019) werden in wenigen Jahrzehnten bis zu 221 Millionen Menschen im Himalaya-Gebiet von der knappen Trinkwasserversorgung direkt betroffen sein. Mit dem Abdecken der dortigen Gletscher mit Schnee könnte deren Schmelzprozess stark verzögert werden. «Eine Verzögerung von bis zu 50 Jahren (je nach Klimamodell) könnte dort möglich sein», so Keller. Zudem zeigen auch Regionen mit touristischen Hintergründen Interesse: Infolge des Klimawandels stossen die Skigebiete zunehmend in höher gelegene Gebiete mit kriechendem Permafrost und Gletscherregionen vor. In diesen Gebieten ist die Verlegung von Wasserleitungen in den Untergrund, wie sie heute üblich ist, ohne regelmässige Schäden nicht mehr möglich. Ein bodenunabhängiges Beschneiungssystem in Form einer seilbasierten Lösung kann dieses Problem lösen.

Beitrag von

Dr. Felix Keller
Co-Projektleiter, Institut für Bauen im alpinen Raum

Dr. Dieter Müller
Co-Projektleiter und Dozent, Institut für Bauen im alpinen Raum