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Whistleblower und Medien in der Schweiz: Wie grosse und kleine Geschichten entstehen
Whistleblower und Medien in der Schweiz: Wie grosse und kleine Geschichten entstehen

Whistleblower und Medien in der Schweiz: Wie grosse und kleine Geschichten entstehen

Die Panama Papers, die FIFA-Bestechungsvorwürfe oder der Fleischbetrug bei der Carna Grischa haben eine Gemeinsamkeit: Auslöser dieser Enthüllungsgeschichten und Skandale waren stets Whistleblower, welche vertrauliche Informationen und Daten an die Medien weitergeleitet haben. Ein Forschungsprojekt der FH Graubünden hat deshalb das Verhältnis von Whistleblowern und Medien in der Schweiz genauer untersucht.

Text: Prof. Dr. Urs Dahinden / Bild: Prof. Dr. Urs Dahinden

Whistleblower sind Menschen, welche Medien oder interne Meldestellen über Fehlverhalten in Unternehmen oder Staatsbetrieben informieren. Über die praktischen Erfahrungen mit Whistleblowern in der Schweiz, über Herausforderungen und Risiken für Medien und Whistleblower und über das dabei oft angewendete Online-Meldeverfahren war bisher noch wenig bekannt. Ein Team aus Forschenden des Schweizerischen Instituts für Informationswissenschaft SII und des Schweizerischen Instituts für Entrepreneurship SIFE hat deshalb ein Projekt gestartet, in dem die folgenden Fragen untersucht wurden: Wie sieht die Praxis des Whistleblowing in der Schweiz aus? Welche Erfahrungen wurden im Rahmen der von Schweizer Medien angebotenen Online-Meldesysteme gesammelt? Welche Themen und Organisationen sind Gegenstand von Whistleblower-Meldungen? Wie werden diese Meldungen journalistisch verarbeitet? Welche Empfehlungen können aufgrund der Forschungsergebnisse formuliert werden?

Weil die Thematik des Whistleblowing in der Schweiz noch weitgehend unerforscht ist, wurde hier ein offenes Vorgehen gewählt, bei dem eine Kombination mehrerer Forschungsmethoden (Literaturanalyse, Experteninterviews und Inhaltsanalyse von gemeldeten Fällen) zum Einsatz kam.

Meldestellen stossen auf grosses Interesse

Für die insgesamt 20 Experteninterviews haben sich Fachleute aus unterschiedlichen Handlungsfeldern zur Verfügung gestellt. Dazu gehören Personen, welche Whistleblower-Meldestellen bei Medien betreiben, in der Journalismus-Ausbildung tätig sind oder Meldestellen bei Unternehmen oder Behörden leiten. Auch eine kleine Gruppe von Whistleblowern konnte befragt werden.

Die Ergebnisse der Experteninterviews zeigen auf, dass in der journalistischen Praxis der Begriff Whistleblower vermieden und eher von Informantinnen/Informanten oder Hinweisgeberinnen/Hinweisgebern gesprochen wird. Die meisten Whistleblower-Meldestellen von Medien stossen auf ein grosses Publikumsinteresse und erhalten viele Meldungen. Diese binden einen erheblichen personellen Aufwand bezüglich Selektion und Triage. Nur ein sehr kleiner Teil dieser Meldungen kann letztlich als Grundlage für eine journalistische Geschichte verwendet werden. Viele der eingehenden Meldungen thematisieren Missstände, welche klar der Privatsphäre zuzuordnen sind (bspw. Familien- und Nachbarschaftskonflikte) oder sich trotz gewissen Bezügen zu öffentlichkeitsrelevanten Themenbereichen (bspw. Arbeit, Konsum, Sozialstaat, Wirtschaft etc.) wegen ihres Einzelfallcharakters nur in seltenen Fällen für eine journalistische Thematisierung eignen.

Quelle von kleinen und grossen Mediengeschichten

Als Gesamtfazit kann festgehalten werden, dass die Whistleblower-Meldestellen von Medien in der Einschätzung der Expertinnen und Experten ein Angebot an «kleine Leute» darstellen, welche ihre «kleinen Geschichten» an die Öffentlichkeit bringen wollen. «Grosse» Whistleblower-Geschichten, welche sich auf Missstände auf der Führungsebene von Organisationen beziehen und deshalb von einer hohen gesellschaftlichen Tragweite sind, werden den Medien weniger über die Meldestellen als vielmehr durch eine direkte Kontaktierung investigativer Journalistinnen und Journalisten bekannt gemacht.

Trotz der quantitativ relativ geringen Ergiebigkeit der Meldestellen befürworten die verantwortlichen Journalistinnen und Journalisten die Fortführung der Meldestellen als niederschwelliges Angebot, damit auch Menschen ohne Erfahrungen und Kontakte mit der Medienbranche einen einfachen und direkten Zugang zu den Medien und damit potenziell zur breiten Öffentlichkeit erhalten. Für die Journalistinnen und Journalisten haben die Meldestellen zudem die Funktion eines Themenfindungsinstruments, da wiederholte Meldungen von Einzelfällen in einem bestimmten Themenbereich wichtige Hinweise auf grössere strukturelle Probleme liefern können.

Grosses Vertrauen in die Medien

Ergänzend zu den Experteninterviews wurde eine Inhaltsanalyse der getroffenen Auswahl von Whistleblower-Meldungen durchgeführt. Alle drei Whistleblower-Meldestellen, welche von Medien in der Schweiz betrieben werden, haben einer wissenschaftlichen inhaltsanalytischen Auswertung der eingegangenen Meldungen zugestimmt, bei der die Anonymität der Meldenden wie auch der journalistische Quellenschutz gewährleistet blieben. Die Resultate der Inhaltsanalyse deuten auf ein grosses Vertrauen der Meldenden gegenüber den Medien hin, da die überwiegende Mehrheit der Informantinnen und Informanten auf die Möglichkeit einer anonymen Meldung verzichtet.

Die gemeldeten Missstände stammen aus vielen unterschiedlichen Wirtschaftsbranchen – mit einer Häufung von Meldungen mit Bezug zur Gesundheits- und zur Finanzbranche. Viele dieser Meldungen können als Beschwerden und Kritik von organisationsinternen und -externen Personen (Mitarbeitenden, Kundinnen und Kunden etc.) bezeichnet werden, wobei das gemeldete Fehlverhalten gesamtgesellschaftlich häufig von untergeordneter Relevanz ist und damit von den Medien journalistisch nicht weiterverfolgt wird.

Juristische Beratung für Medienschaffende

Aufgrund der Forschungsergebnisse wurde eine Reihe von Empfehlungen formuliert, von denen hier eine Auswahl vorgestellt wird. Handlungsbedarf besteht zunächst bei den Medien: Journalistinnen und Journalisten sollten Zugang zu einer kompetenten Beratung in juristischen Fragen erhalten. Auch bei technischen Fragen besteht Beratungsbedarf: Der technische Schutz der Anonymität der Informantin / des Informanten liegt heute mehrheitlich in der Einzelverantwortung der Journalistinnen und Journalisten, welche mit dieser Aufgabe überfordert sind. Medienunternehmen sollten ihren Journalistinnen und Journalisten technische Lösungen anbieten, die eine abhörsichere, verschlüsselte digitale Kommunikation zwischen den Journalistinnen/Journalisten und Informantinnen/Informanten ermöglichen. Whistleblowing sollte als Thema auch vermehrt in der journalistischen Aus- und Weiterbildung angesprochen werden. Eine wichtige Zielgruppe stellen dabei die freien Journalistinnen und Journalisten dar. In diesen Weiterbildungsangeboten sollten u. a. auch die technischen Möglichkeiten der Anonymisierung vermittelt werden.

Keine Konkurrenz zwischen Meldestellen

Die befragten Expertinnen und Experten sind sich einig, dass zwischen den Meldestellen der Medien, der Unternehmen und der Behörden kein Konkurrenzkampf herrscht und dass ein solcher auch nicht gefördert werden sollte. Weil sich die Whistleblower-Meldungen aus Unternehmen und Behörden oft auf organisationsinterne Missstände beziehen, die jedoch von geringer gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind, sollten Unternehmen und Behörden verstärkt besser funktionierende interne Meldestellen aufbauen, damit diese Missstände organisationsintern adressiert und behoben werden können. Bei Kleinbetrieben (z. B. Finanzintermediären) erscheint die Schaffung von Meldestellen, welche für die ganze Branche zuständig sind, vielversprechend.

Schutz und Beratung für Whistleblower

An einem Whistleblowing-Vorgang, der zu einer Publikation in den Medien führt, sind mehrere Akteure und Akteurinnen beteiligt, von denen der Whistleblower das verletzlichste Glied in der Kette darstellt, da er hohe persönliche Risiken (u. a. Arbeitsplatzverlust, Strafverfolgung, soziale Ächtung) auf sich nimmt. Mehrere Expertinnen und Experten betonten deshalb, dass die rechtliche Situation von Whistleblowern in der Schweiz schon heute unbefriedigend sei und durch die geplante Gesetzesrevision noch verschlechtert würde. Eine Verbesserung des Rechtsschutzes von Whistleblowern ist deshalb dringend geboten.

Whistleblower verfügen in aller Regel über keinerlei Vorwissen und Erfahrung mit den anspruchsvollen juristischen, technischen und journalistischen Fragen und Entscheidungen, mit denen sie im Verlaufe ihres individuellen Whistleblowing-Prozesses konfrontiert werden.

Whistleblower stehen vor komplexen Entscheidungen bei einem für sie riskanten Prozess.

Die schematische Darstellung (oben) macht deutlich, dass Whistleblower mit komplexen und vielfältigen Entscheidungen konfrontiert sind. Sie müssen eine Auswahl treffen zwischen unterschiedlichen Meldestellen (Unternehmen, Behörden, Medien, Leaking-Plattformen wie z. B. Wikileaks etc.), zwischen einer anonymen oder namentlichen Meldung (ohne Maske) und zwischen verschiedenen technischen Kommunikationsmitteln (Telefon, persönlicher Kontakt, E-Mail, verschlüsselte Online-Meldung etc.), mit denen sie ihre Meldung übermitteln.

Angesichts dieser anspruchsvollen Entscheidungssituation ist die Einrichtung einer unabhängigen Beratungsstelle für Whistleblower zu empfehlen, wie sie bereits in anderen Ländern existiert. Diese Beratungsstelle sollte ausserhalb von Medien, Behörden und Unternehmen institutionalisiert sein und potenzielle Whistleblower kompetent und unvoreingenommen über die verschiedenen Entscheidungsoptionen und Meldestellen sowie die damit verbundenen Vor- und Nachteile informieren. Auch nach einer Whistleblower-Meldung könnte eine solche Beratungsstelle die Whistleblower weiterhin begleiten und bei Bedarf auch fachlich unterstützen.

Der vollständige Schlussbericht des Projekts ist online zugänglich unter: fhgr.ch/whistleblower

Beitrag von

Urs Dahinden, Prof. Dr.

Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft und empirische Sozialforschung, Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft (SII)