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Viele leerstehende Wohnungen – eine ungesunde Stadtentwicklung
Viele leerstehende Wohnungen – eine ungesunde Stadtentwicklung

Viele leerstehende Wohnungen – eine ungesunde Stadtentwicklung

Schweizer Städte schrumpfen und doch wird weitergebaut, was zu immer mehr leerstehenden Wohnungen führt. Derzeit warten gut 70 000 Wohnungen auf einen Mieter oder eine Käuferin. Dies ist das Resultat eines beispiellosen Baubooms mit fatalen Folgen. Die Professorin Christine Seidler ging dieser Entwicklung im Rahmen eines Forschungsprojekts am Beispiel von Huttwil, dem Spitzenreiter in der Leerwohnungsstatistik, auf den Grund.

Text: Christine Seidler / Bilder: Meret Seidler / Grafiken: Angela von Däniken

In der Gemeinde Huttwil zeigt sich das Problem der Leerstandsentwicklung drastisch: Innerhalb von 14 Jahren stieg die Anzahl leerer Wohnungen um zehn von 30 auf 40 an. In den nachfolgenden vier Jahren von 40 auf 377 Leerwohnungen, dann 2019 in nur einem Jahr schliesslich auf über 400. Dies entspricht relativ zur Bevölkerung einem Leerstand von 15 Prozent. Der schweizerische Durchschnitt liegt bei 1,7 Prozent.

Hinter dieser nackten Zahl verbirgt sich eine alarmierende Fehlentwicklung in der Raumplanung, die bisher kaum beachtet wurde – obwohl die sich abzeichnende Leerstandsentwicklung volkswirtschaftlich und kulturell voraussichtlich einen langfristigen negativen Effekt auf weitere, insbesondere ländliche Gemeinden und Regionen in der Schweiz nach sich zieht. Dieses Problem zeigt sich längst nicht mehr nur in Bergregionen und aufgrund der Abwanderung junger Menschen. Es spitzt sich auch im Mittelland – aufgrund ganz anderer Faktoren – zu.

Sinkende Steuerkraft, höhere Ausgaben

Das Forschungsprojekt «Städtliwerkstatt» von Christine Seidler, Dozentin am Institut für Bauen im alpinen Raum an der FH Graubünden, zeigt auf, dass diese Entwicklung die Folge einer sich in den letzten Jahren abzeichnenden Überlagerung von mehreren Faktoren ist. Im Vordergrund steht dabei nicht etwa der Brain-Drain, die Abwanderung von Akademikern, Unternehmen oder Facharbeiterinnen. Die Forschungsarbeit zeigt, dass vor allem eine zu hohe Baulandausweisung am falschen Ort, die Reurbanisierung, die Kapitalisierung des Bodens sowie die Zinspolitik die Hauptgründe für diese Entwicklung sind. Und diese überlagern sich nicht nur, sondern verstärken sich auch gegenseitig. Trotz hoher Kaufpreise und deutlich gesunkener Renditen hält der Run auf das wertstabile Betongold aufgrund der tiefen Zinsen an. Diese Marktverzerrung hat zur Folge, dass schweizweit im Interesse des Anlagekapitals und nicht entsprechend der eigentlichen Nachfrage – sondern über diese hinaus – Wohnungen erstellt werden.

Der hohe Wohnungsleerbestand hat volkswirtschaftliche und kulturelle Folgen. Das grosse Wohnungsangebot drückt auf die Immobilienpreise und die sinkenden Mieten ziehen Personen mit geringen finanziellen Ressourcen an, wie am Beispiel Huttwil aufgezeigt werden konnte. Für Huttwil bedeutet dies: sinkende Steuerkraft und höhere Ausgaben. Ein negativer Strukturwandel setzt ein. Dennoch wird im Städtchen fleissig weitergebaut. Besonders am Rand, dort, wo es Bauland gibt. Neue Zuzügerinnen und Zuzüger, um die Wohnungen zu füllen, gibt es zu wenige. Das drückt auf die Preise, auch bei den Neubauten, und führt dazu, dass die Huttwilerinnen und Huttwiler aus ihren unsanierten Altbauwohnungen im Zentrum in Neubauwohnungen an den Ortsrand umziehen.

Menschen identifizieren sich nicht mehr mit ihrem Ort

Die Leerstände akzentuieren sich folglich in den Altbauten im historischen Kern Huttwils – ein Phänomen, das schweizweit in vielen Gemeinden zu beobachten ist. Durch die Binnenwanderung ausgelöst, kommt es zunehmend zu einer Ausdünnung des Ortskerns – was als «Donut-Effekt» bezeichnet wird. Die negativen Auswirkungen – wie soziale Erosion, Konkurs von Kleingewerbe wie Bäckerei, Lebensmittelladen, Metzgerei und Quartierbeizen sowie leerstehende Erdgeschosse und Vernachlässigung des Baubestands – stellen einen zunehmend drohenden Zerfall und eine Verödung des Zentrums dar, was mit einem Identitätsverlust einhergeht. Nicht nur durch den Verlust einer strukturell oder baukulturell geprägten Ortsidentität gehen die urbanen Qualitäten verloren – eine Verödung führt auch zu sozialer Verarmung. Infolge des Wegzugs der Menschen identifiziert sich niemand mehr mit dem Ort. Damit geht nicht nur eine kulturelle Identität verloren, sondern auch Lebensqualität. Dieser Verlust verstärkt die Abwärtsspirale der ohnehin ungesunden Siedlungsentwicklung zusätzlich.

Die Bautätigkeit am Siedlungsrand führt zum Leerstand im Ortskern, was als «Donut-Effekt» bezeichnet wird. Die Prozente beziehen sich auf die Verteilung des Leerstandes innerhalb Huttwil.

Identität bedeutet Lebensqualität

Ausstrahlung und Lebendigkeit sind Merkmale gesunder Städte, Quartiere und Dörfer. Durch sie wird Lebensqualität generiert, aufgrund derer sich Menschen gerne an einem Ort aufhalten. Raumplanerinnen und Raumplaner sprechen von «urbaner Qualität». Zentralität, Diversität, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit, Aneignung und Interaktion sind Kriterien für urbane Qualität. Zentral sind aber auch Identität, Partizipation und Prozesse. Sie müssen zwingend miteinbezogen werden und im Fokus der Planung stehen – anstelle vordefinierter finaler Ziele.

Quartieridentität muss als emotionaler Standortfaktor angesehen und in Entwicklungskonzepte integriert werden. Identität soll jedermann dienen, hängt sie doch direkt mit dem Wohlbefinden der Menschen zusammen. Jeder Mensch strebt nach aufrichtiger eigener Identität. Analog dazu geht es auch bei Stadt- oder Quartieridentität primär um Authentizität und nicht um die «eigene Grossartigkeit». Ziel für die Menschen ist ihre Identifikation mit dem Ort, in dem sie gerne leben, auch wenn sie ihren Wohnort aus Sachzwängen gewählt haben und sich vielleicht geschworen haben, hier niemals alt zu werden.

Hier setzt das Planungsformat der «Städtliwerkstatt» an. Das Ziel sind die Planung von entsprechenden Massnahmen zur Stärkung der Identität Huttwils und die Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Stadt. Leerstand und Schrumpfung als Ausgangslage bieten der Stadtentwicklung neue Chancen und Raum für Experimente und Nischen. Für die Zukunft Huttwils und um dieses Potenzial evaluieren, koordinieren und nutzen zu können, ist eine aktive Partizipation wichtig. Das im Rahmen des Forschungsmandats entwickelte Planungsformat «Städtliwerkstatt» bildet deshalb das Herzstück des künftigen Entwicklungsprozesses. Darin fungiert die Bevölkerung als Stadtmacherinnen und Stadtmacher. Mit dem Projekt wurden Handlungsoptionen in einem dafür eigens entwickelten neuen Planungsformat evaluiert und erste Massnahmen für einen Umgang mit der drohenden negativen Entwicklung eingeleitet. Kurzum: Es geht darum, aus einem Donut wieder einen Berliner zu machen. Die Füllung bestimmen die Huttwilerinnen und Huttwiler. Ideen gibt es viele und klar ist auch: Bis aus dem Donut ein Berliner wird, braucht es Zeit.

Bei der Füllung sollen die Bewohner mitreden
Ein lebenswertes Städtli braucht lebendige Ortsteile, die von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern gerne genutzt werden. Deshalb muss es Mechanismen geben, alle an der Gestaltung ihres Lebensumfelds teilhaben zu lassen. Was die Füllung des «Berliners» ist, bestimmt im Rahmen des Prozesses die Wohnbevölkerung selbst.
Rege Diskussionen für ein lebendiges Städtli
Verschiedene Ideen beleben den Entwicklungsprozess

Beitrag von

Chistine Seidler
Dozentin, Institut für Bauen im alpinen Raum