Menu
Wissensplatz
(Feld-)Forschung in der Bündner Peripherie
(Feld-)Forschung in der Bündner Peripherie

(Feld-)Forschung in der Bündner Peripherie

Die Fachhochschule Graubünden realisiert mit zwei «Reallaboren» Schnittstellen in der Bündner Peripherie. Es handelt sich dabei um lokal verankerte Büros, die durch eine personelle Besetzung die Nähe zur Talbevölkerung sicherstellen und der gemeinschaftlichen Umsetzung von Projekten dienen. Die Fachhochschule will damit einen wichtigen Beitrag zur Regionalentwicklung leisten.

Text: Onna Rageth / Bilder: Bregaglia Engadin Turismo

Das Tal der Künstler

Das wildromantische Bergell liegt eingebettet zwischen dem Oberengadin und dem Comer See. Vom alpinen Maloja auf 1800 m ü. M. führt eine serpentinenreiche Strasse zunächst steil bis zum ehemaligen Hauptort Vicosoprano (wo noch bis ins 17. Jahrhundert «Hexen» hingerichtet wurden). Dann verengt sich das Tal und zeigt bereits südlichere Einflüsse. Entlang des Hauptflusses Maira befinden sich links und rechts hoch aufragende, teils schroffe, aber atemberaubend schöne Felsformationen. Vom weltbekannten Soglio aus entfaltet sich ein einzigartiger Blick in Richtung des Piz-Cengalo-Massivs mit einer Höhe von 3369 Metern. In den waldreichen und dicht bewachsenen Hängen gibt es immer wieder typische kleine Ställe, die – manchmal schon halb zerfallen – von ihrer bäuerlichen Vergangenheit zeugen. Die oft palastartigen Gebäude des hiesigen Adels bilden dazu einen spannenden Kontrast. Vom bereits mediterran beeinflussten Grenzdorf Castasegna (690 m ü. M.) geht es weiter bis ins italienische Chiavenna (330 m ü. M.).

In den waldreichen und dicht bewachsenen Hängen gibt es immer wieder typische kleine Ställe, die – manchmal schon halb zerfallen – von ihrer bäuerlichen Vergangenheit zeugen.

Analog zu den geografischen, klimatischen und kulturellen Gegensätzen, die das Bergell ausmachen, sind auch die infrastrukturellen Herausforderungen mannigfaltig: Als alpine Peripherie muss die Talschaft gegen steigende Abwanderungstendenzen ankämpfen, lokale Arbeitsplätze ausbauen und die zivile Versorgung auch in Zukunft sicherstellen. Daraus ergeben sich auch die touristischen Umsetzungen, die es zu implementieren gilt.

Im Frühjahr 2021 kam ich per Zufall ins Bergell. Kaum dort angelangt, konnte ich von einer bekannten Kunsttherapeutin ein Atelier im markanten EWZ-Gebäude des ehemaligen Hotels Helvetia in Vicosoprano übernehmen. Dieses sollte einerseits als künftiges Büro für meine Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin der FH Graubünden und andererseits meiner Passion für die Kunst dienen. Denn schon bald realisierte ich, dass das Val Bregaglia mit Einheimischen und Zugezogenen besiedelt ist, die sich kulturell sehr interessiert zeigen. Schnell liess sich so ein spannendes Netzwerk aufbauen und es gelang, einen engeren Kontakt zwischen der FH Graubünden und der Tourismusorganisation Bregaglia Engadin Turismo herzustellen. Deren umtriebige Direktorin, Eli Müller, zeigte gleich zu Beginn Interesse an einer fruchtbaren Zusammenarbeit – so etwa am Projekt zum Thema «Entwicklung nachhaltiger Communities in Destinationen in Bergregionen» oder an einem künstlerischen Projekt, wonach Kunstschaffende aus aller Welt als sogenannte «Artists in Residence» für eine gewisse Zeit ins Bergell eingeladen werden, um hier in Ruhe zu arbeiten. Man nennt denn auch das Bergell zu Recht «das Tal der Künstler». Und zwar nicht nur wegen der weltberühmten Vertreter Segantini und Giacometti, sondern auch deshalb, weil sich hier viele zeitgenössische und auch visionäre Künstlerinnen und Künstler einfinden. Dies zeigt sich auch dieses Jahr an der Biennale Bregaglia.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Tourismus und Freizeit, Onna Rageth, leitet das Laboratorio vivente Bregaglia.

Inspiriert durch die Idee «Laboratorium für zukunftsfähige Regionen»

Mittlerweile ist unsere Projektskizze zum Vorhaben des Community Building ausgereift. Neben der Andermatt Swiss Alps AG ist die Bregaglia Engadin Turismo Hauptprojektpartnerin. Ein Antrag auf Drittmittelförderung befindet sich in der finalen Ausarbeitung und wurde beim Staatssekretariat für Wirtschaft SECO (Fördertopf Innotour) im Juni 2022 eingereicht.

Meine Anwesenheit vor Ort hat auch meine Funktion als Wissenschaftlerin beeinflusst. Dank der sozialen Verankerung im Tal und der öffentlichen Lancierung des Ateliers kam ich von den theoretischen Erörterungen zur praktisch ausgerichteten Feldforschung. Ich bringe nicht nur selbst Umsatz ins Tal, sondern kann mittlerweile auch andere Menschen dafür begeistern, das Tal nicht nur als Feriengäste zu besuchen, sondern sich hier niederzulassen. Das erzeugt eine neue Qualität des Braingain – anstelle des Braindrain.

Während eines Anlasses im September 2021 hörte ich von der Leiterin des Departements Entwicklung im alpinen Raum, Ulrike Zika, zum ersten Mal von der Idee, in der Surselva ein «Laboratorium für zukunftsfähige Regionen» zu etablieren. Mit der Regiun Surselva besteht eine Leistungsvereinbarung, welche die kommende Zusammenarbeit für die nächsten drei bis fünf Jahre definiert. Aufgrund der bislang gemachten Erfahrungen lag es für mich auf der Hand, dass ein solches Konzept auch im Bergell funktionieren würde. Ein entsprechender Vorschlag fand sofort Zustimmung. Nach eingehenden Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern auf Tourismus- und Gemeindeebene sowie einem Besuch im Bergell durch Mitglieder der Hochschulleitung konnte eine auf das Tal und dessen Bedürfnisse ausgerichtete Leistungsvereinbarung zwischen der Fachhochschule Graubünden und der Fusionsgemeinde Comune di Bregaglia erfolgreich unterzeichnet werden.

Von Qualitätssiegeln und alpinen Infrastrukturen

Das «Laboratorio vivente Bregaglia» startete am 1. Mai 2022. Ich erhielt ein zusätzliches Büro im Tourismuszentrum in Stampa, wo ich seither regelmässig arbeite – und damit einen weiteren idealen Ort, um die bereits bestehenden Netzwerke sowohl mit der Einwohnerschaft und den Feriengästen als auch mit externen Institutionen aufzubauen.

Infolge der begonnenen Projektarbeit wurde ich mittlerweile zur Präsidentin der Commissione Marca Bregaglia gewählt. Dieser Ausschuss zeichnet für die strategische Entwicklung eines einheitlichen Qualitätssiegels für Bergeller Produkte und Dienstleistungen verantwortlich. Neu soll nun auch das zahlreich vorhandene Kunsthandwerk darin aufgenommen werden.

In Maloja ist eine grössere Neuorientierung vorgesehen: Nebst Überlegungen zu potenziellen neuen Erstwohnungen geht man auch der Frage nach, inwiefern in Sportinfrastrukturen investiert werden soll. Das «Laboratorio vivente Bregaglia» wird in dieses Vorhaben miteinbezogen und die Lokalbevölkerung soll aktiv in die Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse involviert werden. Im Rahmen gesundheitstouristischer Überlegungen wird in Maloja ausserdem eine Praxis für Akupunktur vom hiesigen Gesundheitszentrum Centro Sanitario eingerichtet.

Gerade durch die verstärkte Fokussierung auf ein Fachhochschulzentrum in Chur ist die Präsenz in den peripheren Regionen wichtiger denn je. Die beiden Konzepte konkurrieren sich nämlich in keiner Weise. Die bisher eingerichteten Reallabore tragen schon nach kurzer Zeit Früchte, was die gesellschaftliche Akzeptanz anbelangt. Und das kommt nicht nur der Fachhochschule zugute, sondern dient auch dem Ansehen des gesamten Kantons.

Das Grenzdorf Castasegna ist wie die anderen Dörfer der fusionierten Gemeinde Bregaglia Bestandteil des «Laboratorio vivente Bregaglia» .
Das Bergell ist auch bekannt für seine kulinarischen Spezialitäten wie im Herbst beispielsweise die gebratenen Marronis.

Die FH Graubünden geht in die Regionen

Reallabor? Reallabor! Dem Klischee leicht zerstreuter Forscher und Forscherinnen, welche in intellektuellen Elfenbeintürmen abgehoben wirken und arbeiten, entsprechen die fachlich versierten, wissenschaftlichen Mitarbeitenden und Dozierenden der Fachhochschule Graubünden gar nicht. Wir arbeiten praxisorientiert. Das beweist die kürzlich erfolgte Lancierung zweier sogenannter «Reallabore». Dieser Begriff weist auf ein Konzept hin, welches die Verbindung von Praxis und Forschung konkret etabliert. Wissenschaftliche Problemstellungen können demnach auch im touristischen Setting genau an den Orten behandelt und gelöst werden, wo sie auftreten. Dies gilt insbesondere für periphere Destinationen – zum Beispiel die Ortschaften in den zahlreichen Bergtälern des Kantons Graubünden. Dort sind Menschen direkt betroffen und können nicht nur unmittelbar unterstützt, sondern auch selbst zu Akteuren werden, die den Fortschritt mitgestalten. Mit der Förderung und dem Aufbau der Reallabore erhält die FH Graubünden eine zentrale Rolle im Bereich der Regionalentwicklung. Das erste Labor mit dem Namen «Surselva Lab» wurde in der vornehmlich romanischsprachigen Surselva gegründet. Es befindet sich in Ilanz und wird von Livia Somerville geleitet. Das zweite mit dem Namen «Laboratorio vivente Bregaglia» wurde im italienischsprachigen Bergell eingerichtet. Es befindet sich im Tourismuszentrum in Stampa und wird von Onna Rageth geführt. Ein drittes Reallabor ist für eine mehrheitlich deutschsprachige Bündner Gegend vorgesehen.

Die Freude über das Bregaglia Lab ist gross: (v.l.n.r.) Jürg Kessler, Rektor FH Graubünden, Ulrike Zika, Departementsleiterin FH Graubünden, Onna Rageth, Leiterin Bregaglia Lab, Eli Müller, Direktorin Bregaglia Engadin Turismo, Stefano Maurizio, Gemeinderat Bregaglia, Fernando Giovanoli, Gemeindepräsident Bregaglia.

Beitrag von

Onna Rageth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Tourismus und Freizeit