Grenzschutz – heilige Kuh oder goldenes Kalb?
02. Juli 2023
Eine Kolumne aus dem Bündner Bauer (S. 36–37) von Werner Hediger, Zentrum für wirtschaftspolitische Forschung FHGR
Der aktuelle Grenzschutz wird von vielen Landwirtschaftsvertreter:innen als «heilige Kuh» bezeichnet, als eine staatliche Intervention zum Schutz der Schweizer Landwirtschaft, die nicht verhandelbar ist. Auf der anderen Seite kritisieren liberale Stimmen die hohen Kosten des Grenzschutzes für unsere Volkswirtschaft und fordern ein Umdenken.
Die «heilige Kuh» ist eine Redewendung für eine unantastbare Sache, für etwas, das immun gegen Fragen und Kritik sein soll. Als Sinnbild beruht sie auf der religiös-mythologischen Bedeutung und dem Schutzstatus von Kühen in traditionell agrarischen Gesellschaften. Es impliziert ein gewisses Nachhaltigkeitsdenken, stellen Kühe für die Landwirtin und den Landwirt doch seit jeher ein wichtiges Kapitalgut dar. Sie sind die Quelle von Leben, Milch, Fleisch und Dünger auf dem Betrieb und dienen damit als Grundlage für ein nachhaltiges Einkommen.
Übertragen auf das Verständnis einer modernen Volkswirtschaft stehen Kühe als Synonym für Kapital. Das «Schlachten einer heiligen Kuh» ist demnach gleichbedeutend mit dem Verzehr der vorhandenen Produktionsgrundlage und einer Schmälerung des zukünftigen Konsums. Dem entgegen steht das Götzenbild des goldenen Kalbes, das seine Anhänger verehren. Das «goldene Kalb» steht als Metapher für die Huldigung eines veralteten Weltbildes. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich beim Grenzschutz um eine «heilige Kuh» oder ein «goldenes Kalb» handelt. So oder so, ein Umdenken ist angezeigt.
Tatsache ist, dass die Schweiz, wie viele andere Industrienationen, die aufgrund ihrer begrenzten Landressourcen auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind, über einen ausgeprägten Grenzschutz für Agrarprodukte und Lebensmittel verfügt. Damit soll ein Beitrag zur Deckung der Produktionskosten und der Versorgungssicherheit geleistet werden. Aber gerade hier scheiden sich die Geister.
Das WTO-Agrarabkommen zielt auf die Schaffung von wettbewerbsfähigen Marktbedingungen durch Reduktion des Grenzschutzes und weiterer Stützungsmassnahmen. In der Schweiz führte dies zur umfassenden Agrarreform, die 1993 mit der Einführung von einkommensergänzenden und ökologischen Direktzahlungen eingeleitet wurde. Begründet durch die Multifunktionalität der Landwirtschaft soll das bäuerliche Einkommen mit einem angemessenen Entgelt für die erbrachten Leistungen ergänzt werden.
Demzufolge sollen Landwirt:innen für die von ihnen generierten positiven Externalitäten und weitere Leistungen mit Öffentlich-Gut-Charakter angemessen entschädigt werden. Andererseits müssten sie aber auch für die von ihnen verursachten negativen Externalitäten, beispielsweise in Form von Schadstoffemissionen, aufkommen.
Zurück zum Grenzschutz. Dieser führt zwar zu höheren Preisen für Agrarprodukte und Nahrungsmittel. Dass davon aber zu wenig bei den Landwirten ankommt, überrascht nicht, denn entlang von Wertschöpfungsketten schöpfen diejenigen Marktteilnehmer mit der grössten Markt- oder Verhandlungsmacht den grössten Teil des Kuchens ab. Der Grenzschutz hilft hier den Landwirten nicht, im Gegenteil. Ein Umdenken ist nötig.
Auf jeden Fall braucht es dafür keinen Tanz ums «goldene Kalb» und ein umfassenderes Verständnis zum Gleichnis der «heiligen Kuh». Gemäss der Tinbergen-Regel, «für jedes Ziel eine Massnahme», gilt es die vielfältigen Ziele der Agrar- und Ernährungspolitik zu benennen und für jedes Ziel die geeignetste Massnahme zu identifizieren und einzusetzen. Wie viel und welchen Grenzschutz es dann noch braucht, wird sich zeigen.