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Handlungen beobachten, Motivationen ableiten: Experimental- und Verhaltensökonomie
Handlungen beobachten, Motivationen ableiten: Experimental- und Verhaltensökonomie

Handlungen beobachten, Motivationen ableiten: Experimental- und Verhaltensökonomie

Umdenken ist angesagt bei den Ökonominnen und Ökonomen. Jahrzehntelang suchte die Volkswirtschaftslehre nach immer stärkerer Formalisierung. Heute wächst eine neue Generation von Forschenden heran, welche die alten Grenzen der Disziplinen überwindet und sich Interdisziplinarität auf die Fahnen schreibt. Mit viel Psychologie, Biologie, aber auch Informatik versuchen Verhaltens- und Experimentalökonomen und -ökonominnen Handlungen, Gedanken und Ziele der Menschen zu verstehen. Experimental- und Verhaltensökonomie ist ein neuer Bereich, welcher das Angebot des Zentrums für wirtschaftspolitische Forschung (ZWF) erweitert.

Text: Prof. Dr. Andreas Nicklisch / Bild: Yvonne Bollhalder, Prof. Dr. Andreas Nicklisch

Es ist kurz nach acht, ich sitze im Auto, auf dem Weg vom Kindergarten, wo ich meine Tochter – wie immer – viel zu spät abgegeben habe, zur Arbeit. Ein grosser, schwarzer Wagen will mir die Vorfahrt nehmen, ich hupe. Der andere Fahrer macht das auch. Wir beiden lassen im Regen die Scheibe herunter und brüllen uns an. Wenig charmante Worte fallen. Was mache ich da eigentlich? Völlig unsinnig, so komme ich auch nicht schneller zur Arbeit.

Die Volkswirtschaftslehre bietet im Allgemeinen eine sehr formale Analyse unseres täglichen Schaffens und dessen wirtschaftlicher Folgen. Sie bewertet meine Handlungen vor allem im Hinblick auf deren Konsequenzen für meinen Nutzen – jene imaginäre Währung, in der Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler meine Freude messen. Egal, was ich treibe, mit sinnvollen Handlungen versuche ich meine Freude zu maximieren. Nur: Was maximiert meine Freude?

Über viele Jahrzehnte begingen Ökonominnen und Ökonomen bei der Bewertung menschlicher Handlungen einen systematischen Fehler, sie verwechselten Geld mit Freuden. Das taten sie so nachhaltig, dass man ihnen immer deutlicher und zu Recht Weltfremdheit vorwarf. Natürlich ist es vor dem Hintergrund der Geldmaximierung unsinnig, mit anderen Autofahrerinnen und Autofahrern zu streiten. Aber dennoch mache ich es, um meinem Ärger Luft zu verschaffen, denn das gibt mir auch eine Art Genugtuung und Freude. Wir alle machen es fast täglich und wir alle sehen hierin einen Sinn.

Für die Ökonominnen und Ökonomen war es aber ein langer Weg zu verstehen, dass mein Geld nur eine Quelle ist, aus der sich mein Nutzen speist. Einer der bekanntesten Ausgangspunkte dieses Weges begann Ende der 1970er-Jahre an der Universität Köln, an der mein Doktorvater Werner Güth mehr als Hundert Studierende mit folgendem Problem konfrontierte: Er gab einer Person Briefmarken im Wert von 10 DM in die Hand mit der Aufgabe, einer anderen Person einen Teil dieser Briefmarken anzubieten. Akzeptierte diese das Angebot, so ging sie mit den angebotenen Briefmarken nach Hause und die erste Person konnte den Rest (also 10 DM minus Angebot) ihr Eigen nennen. Wurde das Angebot abgelehnt, so wurden alle Briefmarken verbrannt (das Verbrennen von Geldnoten war zu jener Zeit in Deutschland verboten, so verwendete man Postwertzeichen).

Mit experimentellen Methoden werden im Service Innovation Lab SIL der FH Graubünden Unternehmen beraten, welcher Preis für ihr Produkt besonders ansprechend ist.
Mann bei einem computerbasiertem Experiment.

Angebote von weniger als 2 DM (5 Pfennig, 10 Pfennig, 1 DM usw.) wurden fast ausnahmslos abgelehnt. Was für ein trauriges Experiment für die Deutsche Bundespost – was für ein Glücksfall für die Volkswirtschaftslehre! Waren diese Beobachtungen doch ein systematischer Nachweis, dass mein Einkommen nicht die einzige Quelle meines Nutzens ist. Ich lehne ein Angebot ab, obwohl selbst 5 Pfennig besser als nichts sind. Die Ungleichheit des vorgeschlagenen Einkommens ärgert mich, das Angebot abzulehnen schafft mehr Nutzen als das kleine, eigene Einkommen zu akzeptieren.

Geboren wurden aus dieser Erkenntnis zwei völlig neue Teildisziplinen: Die Experimentalökonomie untersucht Verhaltensvorhersagen auf systematische Abweichungen, die Verhaltensökonomie versucht, gefundene systematische Abweichungen in neue – sogenannte verhaltensinformierte – Modelle menschlicher Motivation zu integrieren.

Heute bemüht sich die grosse Gruppe der Experimentalökonominnen und Verhaltensökonomen, die Weltfremdheit der Volkswirtschaftslehre abzubauen. Sie nutzen experimentelle Beobachtungen von Verhandlungen zwischen Menschen um zu erklären, warum Einkommensungleichgewichte zu weniger Einkommenswachstum, aber zu mehr Revolutionen führen, und zeigen, dass bestimmte Gehirnaktivitäten darauf hindeuten, dass mich Umweltschutz interessiert. An der FH Graubünden benutzen wir experimentelle Methoden, um Unternehmen dahingehend zu beraten, welcher Preis für ihr neues Produkt besonders ansprechend ist, um die Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt zur verstärkten Mülltrennung anzuhalten, oder um ältere Arbeitnehmende stärker für Weiterbildungsmassnahmen zu interessieren. Es freut mich, ein Teil dieser neuen Forschungsexpertise an der Bündner Fachhochschule zu sein.

Wer weiterlesen möchte…

  • Beck, H., 2014. Behavioral Economics – Eine Einführung. Springer Gabler.
  • Güth, W., Schmittberger, R., Schwarze, B., 1982. An experimental analysis of ultimatum bargaining. Journal of Economic Behavior and Organization 3, 367- 388.
  • Fehr, E., Schmidt, K., 2006. The economics of fairness, reciprocity and altruism – Experimental evidence and new theories. In: Kolm, S.-C., Ythier, J.M. (Hrsgb.). Handbook of the Economics of Giving, Altruism and Reciprocity. Elsevier. Volume 1, Chapter 8, 1-77.
  • Nicklisch, A., Wolff, I., 2012. On the nature of reciprocity: Evidence from the ultimatum reciprocity measure. Journal of Economic Behavior and Organization 84, 892-905.