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Paradigmenwechsel in der Spitalpolitik

02. Dezember 2019

St. Gallen will die Spitalversorgung an vier Standorten konzentrieren. Fünf Spitäler sollen aufgehoben und in ambulante Gesundheits- und Notfallzentren mit 7x24h-Betrieb und nur noch minimalem Bettenangebot umgewandelt werden. Monika Engler (ZWF) leitet im Auftrag der St. Galler Regierung seit eineinhalb Jahren das Strategieprojekt.

Dringender Handlungsbedarf

St. Gallen weist eine engmaschige Spitalversorgung auf. Neben den Zentrumsspitälern in St. Gallen (Kantonsspital, Ostschweizer Kinderspital) sind im Kanton acht Regionalspitäler mit einem breiten stationären und ambulanten Grundversorgungsangebot tätig. Daneben kann sich die Bevölkerung in diversen Privatkliniken oder – wie dies ein Fünftel der St. Galler Patienten bereits tut – in einem der zahlreichen ausserkantonalen Spitäler behandeln lassen.

Im heutigen Umfeld stösst eine solche Struktur zunehmend an ihre Grenzen. Allem voran stellt der medizinisch-technische Fortschritt grundlegend andere Anforderungen an Personal und Infrastruktur. So erhöhen neue Diagnose- und Therapiemethoden zwar die Heilungschancen der Patienten, gleichzeitig bedingen sie zusehends den Beizug verschiedener Spezialisten. Die Versorgung aus einer Hand ist immer seltener möglich. Ebenso werden einst stationär durchgeführte Behandlungen zunehmend ambulant vorgenommen, worauf die bestehenden Strukturen nicht ausgelegt sind. Schliesslich führt der Fortschritt dazu, dass für eine zeitgemässe Ausstattung die medizintechnischen Geräte in immer kürzeren Abständen ersetzt werden müssen.

Diese Entwicklungen treffen kleinere und peripher gelegene Spitäler besonders stark. Mit kleineren Fallzahlen, einer schmaleren Angebotspalette und weniger Fachdisziplinen sind sie für viele Fachkräfte nicht die erste Wahl. Entsprechend schwierig ist es für kleinere Spitäler, ausreichend Fachkräfte zu finden – zumal für eine an 365 Tagen rund um die Uhr besetzte Stelle 5 bis 6 Personen notwendig sind. Gleichzeitig können bei geringen Fallzahlen weder Personal noch Infrastruktur und Apparaturen genügend ausgelastet werden.

Die Folge sind zwangsläufig wirtschaftliche Probleme, die sich – verschärft durch regulatorische Vorgaben und Tarifeingriffe – in erheblichen strukturellen Defiziten äussern. So rechnet der Kanton St. Gallen bei Weiterführung des Status quo mit Defiziten bei den öffentlichen Spitälern von 70 Mio. Franken pro Jahr und bald einsetzenden Liquiditäts- wie Solvenzproblemen. Dass diese Prognosen nicht aus der Luft gegriffen sind, machte ein erster Notkredit von 10 Mio. Franken an die Spitalregion Fürstenland Toggenburg deutlich, den der Kantonsrat diesen September beschliessen musste.

Mindestens so bedeutsam sind qualitative Bedenken: Wenn die Fachkräfte fehlen, können weder Behandlungsqualität noch ein geordneter Betrieb aufrechterhalten werden. Auch hier wurde der Kanton bereits von der Realität eingeholt: Am Spital Walenstadt musste im Herbst 2019 aufgrund Personalmangel die Operationstätigkeit reduziert werden. Doch selbst wenn die Fachkräfte vorhanden sind, müssen diese für gute Leistungen ihr Wissen regelmässig anwenden können. Fehlen ausreichende Fallzahlen leidet die Behandlungsqualität. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt diesbezüglich ein klares Bild.

Regierung entscheidet sich für Strategie «4plus5»

Vor diesem Hintergrund hat sich die St. Galler Regierung für eine weitreichende Strukturanpassung mit konsequenter Standort- und Leistungskonzentration entschieden. Die sogenannte 4plus5-Strategie stärkt das abgestufte Versorgungsmodell:

  1. Die Zentrumsversorgung mit spezialisierten und hochspezialisierten Leistungen wird unverändert durch das Kantonsspital bzw. das Kinderspital sichergestellt.
  2. Die stationäre Grundversorgung wird neu an vier Spitalstandorten St. Gallen, Grabs, Uznach, Wil konzentriert. Diese sind für die Kantonsbevölkerung in der Regel innerhalb von 30 Minuten Fahrzeit selbständig erreichbar. Durch die Leistungskonzentration können die Spitalunternehmen künftig Fallzahlen von mindestens 7'000 erreichen, was als Mindestgrenze für eine nachhaltige Sicherung der medizinischen Qualität erforderlich ist. Andererseits sparen die Spitalverbunde mit dieser Struktur Kosten, wodurch sie ihr wirtschaftliches Bestehen sichern können.
  3. Die wohnortnahe ambulante Versorgung wird neu durch fünf regionale Gesundheits- und Notfallzentren (GNZ) ergänzt. Die GNZ entstehen an den ehemaligen Spitalstandorten Wattwil, Altstätten, Walenstadt, Flawil und Rorschach. Sie kombinieren umfassende ambulante Leistungsangebote mit einem auf leichte Fälle ausgerichteten 7x24h-Notfallbetrieb und einer beschränkten Überwachungs- und Betreuungsstruktur für stationäre Kurzaufenthalte von in der Regel höchstens 24 Stunden. Damit wird ein wohnortnahes stationäres Angebot für alle Regionen des Kantons St. Gallen sichergestellt und gewährleistet, dass die Kantonsbevölkerung im Notfall eine Anlaufstelle innerhalb von 20 Minuten Fahrzeit selbständig erreichen kann.

Während für die GNZ der 7x24h-Zugang zur Notfallversorgung sowie das kleinstationäre Angebot gesetzlich vorgeschrieben und vom Kanton im Sinne einer Service-Public-Leistung entschädigt werden, erfolgt die konkrete Festlegung des restlichen Leistungsangebots standortspezifisch und in Zusammenarbeit mit den regionalen Leistungserbringern. Dabei sollen die GNZ auch auf eine integrierte Versorgung ausgerichtet werden. So können die GNZ um zusätzliche Angebote anderer Versorgungsstufen erweitert werden, darunter Prävention, Rehabilitation und Alternativmedizin sowie Stützpunkte ambulanter Pflege (Spitex) und regionale Beratungsstellen (z. B. Pro Senectute, Mütter- und Väterberatung).

Paradigmenwechsel

Der Kanton St.Gallen hat während rund eineinhalb Jahrzehnten im Rahmen seiner Netzwerkstrategie auf Leistungskonzentration und Schwerpunktbildung an den bestehenden Spitalstandorten gesetzt. Mit diesem Vorgehen konnten mit Erfolg Doppelspurigkeiten beseitigt und Effizienz- und Qualitätssteigerungen erreicht werden. Zur Bewältigung der heutigen Herausforderungen reicht dieses Vorgehen jedoch nicht mehr aus. Die umfangreichen Analysen im Vorfeld des Strategieentscheids haben klar gezeigt, dass beim Festhalten an den Spitalstandorten auch weitreichende Massnahmen (weitere Angebotskonsolidierung, Effizienzsteigerungen) und Neuausrichtungen (z. B. in Spezialklinik, Klinik für Akutgeriatrie, ambulantes Operationszentrum) nicht ausreichen, um der medizinisch-technischen Entwicklung, der zunehmenden Spezialisierung, der Fachkräfteknappheit und neuen regulatorischen Vorgaben gerecht zu werden. Fallvolumen und Betriebsgrössen würden an verschiedenen Standorten kritisch bleiben, was die Aufrechterhaltung von Leistungsangebot und Versorgungsqualität zusehends in Frage stellte.

Die Regierung des Kantons St. Gallen wagt deshalb den Paradigmenwechsel hin zu weniger Spitalstandorten. Jüngste Ankündigungen zur Umwandlung des Spitals Laufen (BL) und diverser Spitalstandorte im Kanton Freiburg weisen darauf hin, dass dies auch in anderen Kantonen der Fall ist.

Detaillierte Informationen zur St. Galler Spitalstrategie finden Sie auf: http://spitalzukunft.sg.ch/ > Vernehmlassungsgrundlagen

Titelbild: (PublicDomain)Zhen Hu/UNSPLASH